Die Geschichte Vom Turmbau An Der Rems

Hochzeitsturm / Wedding Tower
Stefan Müller

Die Geschichte Vom Turmbau An Der Rems

Kap. I – Vorgeschichte …etwas mehr als zwei Jahre ist es her, dass JórunnRagnarsdóttir anrief, und vom Projekt 16 Stationen für die Remstal Gartenschau 2019 erzählte.Ohne genauere Einzelheiten zu erfahren, habe ich damals spontan meine Teilnahme zugesagt. Noch im Dezember `16 gab es ein erstes Treffen und die eingeladenen 16 Architekten wurden 16 Städten und Gemeinden zugeteilt. Mein Glück hieß: Plüderhausen. Und noch am gleichen Tag führte der mir zugeloste Bürgermeister mich zu einer Streuobstwiese oberhalb der Stadt, wies auf eine Stelle zwischen den Bäumen und meinte, dies sei der Ort, hier nun solle die Station entstehen. Mir fielen in den Bäumen hängende Zettel mit darauf fettgedruckten Nummern auf und auf meine Nachfrage hin, erzählte er mir vom Plüderhausener Brauch…

 

Kap. II – Der Brauch Seit Mitte der 1990er Jahre pflanzen Brautpaare, die sich auf dem Plüderhausener Rathaus das Ja-Wort gegeben haben, auf der sog. „Hochzeitswies“ einen Obstbaum. Zur Auswahl stehen Apfel-, Kirsch-, Birn- oder Zwetschgenbaum.

 

Was als „alter Brauch“ von der Gemeinde wiederbelebt wurde, dient dem Hegen und Pflegen der Kulturlandschaft, den Streuobstwiesen des Remstals. Dem Brauch ging ein drastischer Einschnitt in die Lebenswirklichkeit voraus. Nach dem Dreißigjährigen Krieg bestimmten Verordnungen und Verpflichtungen wechselnder Landesväter – „im Rahmen der allgemeinen Bestrebung zur Hebung der Landeskultur“ – den Anfang: Heiratswillige Bauern und Bewerber um das Bürgerrecht wurden verpflichtet, Obstbäume an Straßen oder auf Allmenden zu pflanzen, Kommunen und private Grundeigentümer waren angehalten, Obstbäume beiderseits von Straßen und Wegen einzusetzen, Baumfrevlern drohten drakonische Strafen.

 

Kap. III – Der Entwurf Das Anordnen und Errichten von Räumen an Orten ist Aufgabe der Architektur. An den Höhenzügen der Tallandschaft der Rems oberhalb von Plüderhausen steht ein Turm inmitten einer Streuobstwiese, die als „Hochzeitswiese“ ausgezeichnet ist. Der sogenannte „Hochzeitsturm“ markiert den Ort und stiftet dem Brauch architektonischen Raum.

 

Kap. IV – Gebrauchsanweisung Der Weg führt unter den Kronen der Obstbäume kreuz und quer über die Wiese zum Turm. Von oberhalb nähern sie sich dem weiß engobierten Backsteinturm, der hangaufwärts zwei schmale, nebeneinanderliegende Öffnungen ausweist.Über Stufen in den Schwellen treten die beiden gemeinsam und zugleich, aber durch die beiden Öffnungen getrennt voneinander, in das Innere hinein.

 

Im Inneren, im Turmhaus, verliert der Backstein seine weiße Engobe und zeigt den roten Scherben vor. Für einen Moment verweilen die beiden im Haus des Turmes; vor ihnen weitet sich der Blick im Rahmen der großen Bogenöffnung gegen Westen; am fernen Horizont über dem Tal schimmert die große Stadt, auf der die Sonne ruht; noch darunter im Tal die kleine Stadt mit den verdrehten schwarzen Dächern, aus der sie kommen, in der sie wohnen; für einen Augenblick wenden sich die Beiden einander zu, des gegebenen Versprechens sich vergewissernd; eine Glücksmünze fällt durch den dunklen Schlitz im rot gepflasterten Boden; Arm in Arm, Hand in Hand, schreiten die Beiden gemeinsam und zugleich voran über die tiefe Schwelle des großen Bogens, dem Blick nachgehend die Stufen herab; in beiden Nischen der tiefen Laibungen nach den Spaten greifend, führt der Weg unter den Kronen der Obstbäume kreuz und quer über die Wiese zu der auserkorenen Stelle ihres Baumes.

 

Kap. V – Romantisieren "Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. (…) Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“[1]

 

Kap. VI – Die Räumlichkeit der Wand Wände sind in aller Regel zweiseitig raumwirksam. Sie verlaufenzwischenunterschiedlichenRäumen, zwischen drinnen und draußen, zwischen innen und außen, zwischen Zimmern und Wegen, zwischen Häusern und Straßen, zwischen Innenräumen und Außenräumen, zwischen Stadt und Land. Wände schließen ein und aus. Über Öffnungen treten die Räume zu beiden Seiten der Wand in Verbindung.Über das Fenster tritt das Zimmer des Hauses mit der Straße oder dem Garten in Verbindung, über die Tür das eine Zimmer mit dem anderen.

 

Öffnungen sind selbst auch Räume, je dann, wenn sie den Aufenthalt der Wohnenden innerhalb der Wand räumlich ermöglichen: in der Tür, im Fenster, in der Nische usw. Die Öffnungen geben die Dicke der Wand preis, die wiederum nicht nur mit Schwelle, Laibungen und Sturz in einem proportionalen Verhältnis zum Raum der Öffnung selbst stehen, sondern in gleicher Weise auch zu den außen wie innen anschließenden Räumen. Hier im Besonderen hat sich die Architektur als Raumkunst der Grenze und des Übergangs zu erweisen.[2]

 

Kap. VII – Warum der Bogen? Zumal er nichts anderes vermag - jedenfalls nicht ohne anderweitige Unterstützung - mauert der Backstein Bögen und Gewölbe. Öffnungen unter Bögen lassen Wände schwer erscheinen. Fließend werden Lasten über den Bogen in Wand und Pfeiler umgelenkt und im Erdmassiv abgetragen. Das „Fließen“ lässt die Wand gleichsam im Grund wurzeln und aus ihm herauswachsen. 

 

In besonderer Weise zeichnen Bogen und Gewölbe die innere Räumlichkeit der Wand aus: Der schützende und bergende Charakter der umschließenden und zugleich öffnenden Geste wirkt sich raumintensivierend auf Orte und Wege aus. Ein Bogen fokussiert die Mitte, durchwelche der Blick und die Bewegung führen. Anders als die rechtwinkelige Öffnung, welche die Wand lediglich aussticht und abzieht, scheint der Bogen die Öffnung auszudehnen, und in Pfeilern zu bündeln, weswegen wohl auch das Massiv der Wand im Raum der Öffnung noch spürbar zu sein scheint.

 

Kap. VIII – Symbolische Geometrie Den Zirkel am Auflagerpunkt einstechen, den gegenüberliegenden Auflagerpunkt aufnehmen und die Linie zur oberen Mitte führen; danach, die Prozedur von der anderen Seite wiederholen…, das seitliche, gegenüberliegende Vereinzelte zur Mitte, zur Einheit, zusammenführen, das meint hier: symbolische Geometrie.

 

Kap. IX – Das Monument " Wenn ein Gebäude“ – wie der Philosoph meint – „erhaben sein soll, so scheint Größe der Dimensionen erforderlich zu sein, denn bei wenigen und zugleich kleinen Teilen kann sich die Einbildungskraft nicht zur Idee des Unendlichen erheben.“[1]

 

Mitnichten. Das Erhabene – so entgegnen wir - wirft doch nicht die Frage nach schierer Größe auf, sondern nach zweckhaft-räumlicher und -formaler Intensität:3 x 3 x 6 Meter mögen dafür schon reichen…

 

Kap. X – Handwerk Lassen wir aber noch den alten Bekleidungstheoretiker zu Wort kommen: „ Backstein erscheine als Backstein...“[2]Ein parmenidisches Bruchstück, das nicht vom Sein des Dings spricht, nicht von der Fuge oder vom Stein, weder von der Ordnung noch vom Material. Der Akzent liegt hier auf dem „Erscheinen“, also auf der Spiegelung im Auge des Betrachters, auf Vorstellung und Wahrnehmung, auf der Verhältnismäßigkeit, die wir Maßstäblichkeit nennen.

 

Kap. XI – Der Bau Um Raum als einen solchen erscheinen zu lassen, bedarf es immer erst der Form, der materialen Form als Boden, Wand und Dach. Nicht aber kommt deshalb die Form vor dem Raum, stets ist zuerst eine Vorstellung vom Raum vorhanden.Der architektonische Raum ist der architektonischen Form entlehnt und dennoch ist die Form nur Sinnbild, nur Symbol, des Raums. Form ist nur Form des Raums, sowie Raum nur Raum des Wohnens ist.Die Form (Matrize) zeigt sich daher als Gepräge des Raums (Patrize), nach innen wie nach außen, Raum dagegen als Gepräge des Zwecks.

 

Kap. XII – Schluss Zu guter Letzt noch ein Auszug aus meiner kurzen Ansprache anlässlich des unlängst begangenen Richtfests auf der „Hochzeitswies“, hier natürlich umgemünzt auf die heutige Veranstaltung, wie man das ebenso macht, nicht wahr, also: „Da war es schnell klar: dem Brauch einen Raum zu stiften, dem Raum ein Haus zu errichten, für das Haus einen Turm zu dichten…um hier und heut davon zu berichten…“

Project credits

Product spec sheet

Hersteller

Project data

Projektname auf Englisch
Hochzeitsturm / Wedding Tower
Projektjahr
2019
Kategorie
Wachtürme
Teilen oder Hinzufügen von Hochzeitsturm / Wedding Tower zu Ihren Sammlungen