EIN STROHBALLENHAUS IN DER DORFMITTE
Pfaffenhofen ist ein kleines Dorf in der Nähe von Heilbronn. Es zeichnet sich durch eine idyllische Lage mit einer Kirche und Fachwerkhäusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert im Ortskern aus, im Hintergrund erheben sich malerisch die Weinberge. Der Ortskern wird nun mit einem Wohngebäude in regionaltypischer Kubatur nachverdichtet, das in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich ist. Zum einen spiegelt die Bauweise die Denkweise und den Arbeitsbereich des Bauherrn wider. Ziel war es, ein Gebäude zu realisieren, das möglichst aus natürlichen und nachwachsenden Rohstoffen besteht, die dem natürlichen Kreislauf wieder zugeführt werden können. Alles basierte auf der Idee, Strohballen in Kombination mit Lehmputz als thermische Hülle für Böden, Decken, Dächer und Wände zu verwenden - eine Praxis, die seit dem späten 19. Jahrhundert angewandt wird und aus verschiedenen Gründen ein Comeback erlebt: Da Stroh nachwachsend und recycelbar ist, schont es die Ressourcen und das Klima mehr als herkömmliche Dämmstoffe. Außerdem ist es leicht verfügbar und kann lokal bezogen werden. Doch nicht nur das Material selbst ist low-tech, auch die Handhabung ist einfach: Die Strohballen werden mit einer Dicke von 36,5 cm in ein Holzgerüst gepresst, der Überschuss wird einfach mit einer Heckenschere abgeschnitten.

Ziel für Haus Hoinka war es, alle sechs Fassaden - also auch das Dach und die Bodenplatte - in dieser Strohballenbauweise zu realisieren. Um auf eine aufwendige Abdichtung zu verzichten und gleichzeitig die Strohballen in der Bodenplatte dauerhaft vor Wasser zu schützen, wurde das Haus um ein ganzes Stockwerk erhöht. Das kompakte Haus ruht auf einem Betonkreuz und vier Stützen. Sind die hölzernen Fensterläden geschlossen, entsteht der Eindruck eines aufgeständerten Holzmonolithen, der einen starken Kontrast zur offenen Gartenebene bildet. Dabei nimmt das Haus Hoinka sowohl die Maserung als auch die Dachform seiner Umgebung subtil auf und tritt mit seiner gestaffelten Struktur aus Steinsockel und auskragendem Holzbau in einen direkten Dialog mit den Fachwerkhäusern im Ortskern.

EIN HAUS, DAS SICH VERWANDELN LÄSST
Hinter der einfachen Grundform verbirgt sich eine komplex verschachtelte Doppelhaushälfte, bei der die beiden Wohneinheiten jeweils über eine einzige Treppe mit dem Gartengeschoss verbunden sind. Das bedeutet, dass die Eingangstüren zu den Wohnungen jeweils im Erdgeschoss liegen. In allen Geschossen sind die Wohneinheiten punktuell zueinander angeordnet, so dass alle Bewohner von den Ausblicken in alle vier Richtungen profitieren können: So reicht der Blick von jeder Wohnung nach Osten auf den Kirchplatz, nach Westen in den Garten, nach Norden in die Weinberge und nach Süden über die Dächer des Dorfes in die Ferne. Im ersten Stock ist das Haus längs geteilt, im zweiten quer. Diese Aufteilung ist auch im Inneren ablesbar: So wurden beispielsweise die Fichtenholzstruktur und der Lehm in der zum Dorfzentrum hin gelegenen Wohnung weiß gestrichen, während sie in der zum Garten hin gelegenen Wohnung unbehandelt blieben. Aber auch in der Weisstannenfassade ist diese Unterteilung subtil sichtbar: Die Bohlenbreiten der Bretterverschalung variieren in den beiden Haushälften leicht und geben so einen Hinweis auf das Innere.

Im Erdgeschoss wird die aus statischen Gründen erforderliche Aufstockung durch ein Betonkreuz und vier Eckstützen erreicht. So entstehen vier Freiflächen, die von den Bewohnern auf unterschiedliche Weise genutzt werden können - denkbar sind beispielsweise eine Ladestation für ein E-Auto, eine Werkstatt oder eine Außenküche. Diese Nutzungen können sich im Laufe des Jahres ändern: Im Sommer beispielsweise fungieren die Räume als Outdoor-Wohnzimmer und erweitern den Innenraum. Der Bauherr entschied sich, in einem dieser vier Räume eine Einliegerwohnung zu realisieren. Weitere Ausbauten wie ein Wintergarten, eine Werkstatt oder ein Gästezimmer sind mögliche Optionen für die Zukunft. Durch ihre Entscheidungen werden die Bewohner das Haus im Laufe der Jahre mitgestalten. Die Cite Verticale in Casablanca inspirierte die Architekten zu einem Ansatz, der die Nutzung eines Gebäudes zum Teil den Bewohnern überlässt. Und in der Tat betrachtet das Atelier Shen das weitere Bauen durch die Bewohner dieser Siedlung als sehr bereichernd.

ZIMMER OHNE AUSSTATTUNG
Auf jeder der Etagen sind acht fast quadratische Räume von etwa 4 x 4 Metern angeordnet. In der ersten Etage längs zum Haus und in der zweiten Etage quer zum Haus als Enfilade. Da alle Räume nahezu identisch sind, können sie abwechselnd als Küche, Schlafzimmer, Wohn- oder Esszimmer genutzt werden. Das heißt, sie
können ihre Funktion über die gesamte Lebensdauer des Gebäudes verändern, ohne dass allzu umfangreiche bauliche Veränderungen notwendig sind. Allerdings sind einige Räume im Haus Hoinka, wie z.B. die Bäder, durch ihre Installationen klar definiert.

Diese Einheitlichkeit der Räume spiegelt sich auch in der Fassade wider: Alle Räume in den Obergeschossen haben identisch geformte Fenster. Nur die Balkontüren unterbrechen die Einheitlichkeit des Aufzugs - wobei sie auf die Durchgangsöffnungen der Enfilade verweisen. Im Dachgeschoss wurden breite Fensterbänder eingebaut, die ebenfalls in ihrer Form identisch sind und die Gleichwertigkeit aller Räume unterstreichen. Diese Gleichheit und Einheitlichkeit ermöglicht es, unterschiedliche Wohnungskonfigurationen im Haus zu schaffen. Die beiden Wohneinheiten der Doppelhaushälfte können jeweils geschossweise geteilt werden. Das bedeutet, dass die beiden großen Maisonette-Wohnungen in vier kleinere Einheiten aufgeteilt werden können. In diesem Szenario wird die interne Treppe zu einem Treppenhaus, das den Zugang zu zwei Wohneinheiten ermöglicht. Die Türen, die sich zum Treppenhaus hin öffnen, werden dann zu den neuen Eingängen zu den Wohnungen. Auf diese Weise kann das Haus flexibel auf sich ändernde Familienverhältnisse reagieren. Das bedeutet, dass die Wohnfläche pro Person nach dem Auszug der Kinder reduziert werden kann und das Haus ohne große Umbaumaßnahmen eine hohe Nutzungsflexibilität bietet.

DAS HAUS ALS KRAFTWERK
Im Haus Hoinka wurde Wert auf die Verwendung einfacher und ökologischer Materialien gelegt. Neben der Verwendung von Stroh, Lehm und Holz wurde darauf geachtet, dass auch alle anderen verwendeten Materialien eine gute Ökobilanz aufweisen und in geeigneter Weise recycelt und getrennt werden können. So weit wie möglich wurden alle Klebeverbindungen, die
schwer reversibel sind, wurden vermieden. Alle Materialien einschließlich ihrer Herkunft werden in einer vom Auftraggeber entwickelten Datenbank für nachhaltige Bauprodukte erfasst.

Es werden größtenteils regenerative Energiequellen genutzt. Die Stromerzeugung erfolgt durch Solarmodule, die als komplette wasserführende Schicht in das Dach integriert sind. Die Solarmodule bilden das kleinste Bauteil im Haus und korrespondieren sowohl mit dem Netz der Dachfenster als auch mit dem Netz des gesamten Hauses. Die PV-Elemente produzieren insgesamt 30.000 kWh Strom pro Jahr, was den prognostizierten Bedarf um rund 6.000 kWh übersteigt. Dieser Betrag berücksichtigt den gesamten Strom- und Wärmebedarf des Hauses. Ein Tagesstromspeicher mit einer Kapazität von 10 kWh sorgt dafür, dass der tagsüber erzeugte Strom auch in den Abendstunden und in der Nacht zur Verfügung steht. Sollte dieser Strom nicht ausreichen, wird Energie aus dem Stromnetz bezogen; umgekehrt werden Überschüsse ins Netz eingespeist.

Die Beheizung erfolgt über eine Wärmepumpe (die auf Kühlung umgeschaltet werden kann), die eine Deckenflächenheizung versorgt. Dieses System bietet durch die Strahlungswärme einen vergleichbaren Komfort wie eine Fußbodenheizung und kann deutlich schneller auf einen veränderten Heizbedarf reagieren. Insgesamt erreicht das Haus das KfW-Effizienzhaus 40 Plus und den Effizienzhaus Plus-Standard, da es sowohl einen negativen Jahres-Primärenergiebedarf als auch einen negativen Jahres-Gesamtenergiebedarf nachweisen kann. Darüber hinaus wird das Haus im Laufe eines Jahres im bewohnten Zustand überwacht, um die tatsächlich verbrauchten Energiemengen mit den ursprünglichen Berechnungen zu vergleichen.

Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte weist das Gebäude eine besonders gute Ökobilanz auf: Im Vergleich zu einer neuen konventionellen Doppelhaushälfte gleicher Größe aus Ziegeln und mit klassischer Dämmung werden 95 Prozent CO2 eingespart. In den 140 Kubikmetern Holz, die für das Haus verwendet wurden, sind rund 100 Tonnen CO2 gespeichert. Gerade jetzt, wo die Ressourcen immer knapper werden, ist ein nachwachsender Dämmstoff wie Stroh eine gute Alternative, denn er ist nicht nur klimafreundlich, sondern auch regional und kostengünstig verfügbar. Das ist vielversprechend für die Zukunft des Bauens. Was den Gebäudetyp betrifft, so zeigt Haus Hoinka, wie der Wohnungsbau in ländlichen Gebieten neu gedacht werden kann. Durch eine nachhaltige Bauweise und die Verwendung einfacher Materialien, die separat wiederverwertet werden können, wird eine höhere Dichte für das Dorfzentrum erreicht. Darüber hinaus bietet das Gebäude einen äußerst flexiblen Grundriss, der ein Zusammenleben in verschiedenen Konstellationen ermöglicht. Das Haus Hoinka wird zukünftige Veränderungen nicht nur ermöglichen, sondern wahrscheinlich auch bereichern.

Mannschaft:
Architekten:Atelier Kaiser Shen Florian Kaiser, Guobin Shen
Projektteam:Kilian Juraschitz (Projektleitung), Matthias Stauch,
Leonie Stier, Patrick Schneider
Tragwerksplaner: F2K Ingenieure GmbH, Stuttgart
Nachhaltigkeit / Bauphysik: Hoinka GmbH, Stuttgart
HLSE: Energa-plan GmbH, Stuttgart
Feuerschutz: Etgenium GmbH, Langenbach bei Kirburg
Schalldämmung: Planungsgruppe Kuhn GmbH & Co. KG, Sindelfingen
Lichtplanung: Silvia Barbosa Kaiser, Stuttgart
Firmenverzeichnis Konkret: Bauunternehmung Haass GmbH & Co.KG, Güglingen
Holzarbeiten: Heyd GmbH Zimmerei - Holzbau, Heilbronn
Fassade: Zimmerei Tobias Scheuermann, Sachsenheim
Strohballen-Isolierung: Zimmerei Tobias Scheuermann, Sachsenheim
Trockenbau / Lehmputz: Stukkateur Link GmbH, Lauffen a/N.
Innentüren: Schreinerei Jauss, Sachsenheim
Stahlbau (Balkone): Danner Metallbau GmbH, Güglingen-Frauenzimmern
Klempnerarbeiten, Balkonabdichtung: HS Blechschmiede. Spenglerei, Heilbronn
Elektriker: DTC GmbH, Reutlingen
Fotografie: Brigida González

Verwendete Materialien:
Solardach: Ennogie GmbH, Magdeburg
Oberlicht 2. Stock: GSL.GLASOLUX GmbH, Bielefeld
Dachbodentreppe (RWA): GSL.GLASOLUX GmbH, Bielefeld
Loungesessel: Carl Hansen C25
Stühle: Thonet S 214 Esche
Hocker: Herzog & de Meuron: X-Hocker
Fensterläden UF: Baier GmbH Slidetec, Burgheim
Sonnenschutz GF / Balkontüren UF: ROMA, Burgau
Fenster: Fensterbau Schneider GmbH, Güglingen-Frauenzimmern
Balkontür GF: Fensterbau Schneider GmbH, Güglingen-Frauenzimmern
Eingangstüren: Fensterbau Schneider GmbH, Güglingen-Frauenzimmern
Doppelwandige Paneele: Kunststoff-Vertrieb Nuding GmbH, Schorndorf
Lichtschalter/Steckdosen: JUNG, Schalksmühle. Modell: Jung LS 990
Abgehängte Leuchte 2. Stock: NUD. Modell: Kollektion Classic Schwarz
Aufbauleuchten 1. Stock: Mawa.Modell: eintopf Wandleuchte
und Deckenleuchte
Türgriffe: Karcher Design GmbH, Bad Rappenau. Modell: Rhodos
Lehmplatten / Lehmfarbe: WEM. Farbe: Karamell / off-white
Fliesen für das Badezimmer: Villeroy und Boch


